In meiner Familie wurde wenig gesprochen, es wurden selten Geschichten erzählt, und dementsprechend vernachlässigt war das Verhältnis zur eigenen Vergangenheit, zur Geschichte. Ich habe diese Verkümmerung des Gedächtnisses immer als Mangel empfunden, als Riss, der mich von der Realität und meiner Gegenwart trennt. Aber auch ich bin vom Vergessen wie von einem Erblinden infiziert, und wenn meine älteste Freundin mir von unseren gemeinsamen Erlebnissen erzählt, wundere ich mich: nicht einmal Bilder in dieser für Erinnerungen typischen, verschwommenen und traumhaften Qualität wollen sich einstellen – obwohl ich durchaus aktiv beteiligt war, ist es vielmehr so, als hätte ich das gar nicht erlebt.
Wenn ich fotografiere – und obwohl ich meist recht abstrakte Bilder mache, die die Situation zeigen, wie nicht das menschliche Auge, sondern die Kamera sie “sieht” – kann ich mich erinnern. Ich vergesse noch immer, zumal die Stimmung und wer ich in dem Moment zu sein meinte, aber die Bilder, die ich sorgfältig datiere, schaffen eine Markierung in der unendlichen Kontinuität der Zeit, und sie halten fest, dass da etwas gewesen ist, dass ich in dieser Vergangenheit da war. Die Abstraktion entspricht dabei der Qualität meiner Erinnerung besser als ein dokumentarisches Bild, trägt sie doch der Lückenhaftigkeit der Vergegenwärtigung Rechnung und der Tatsache, dass der Moment, der auch in seiner Gegenwart zu großen Teilen opak geblieben war, noch tiefer in die Unbegreiflichkeit zurückgekehrt ist.
Im Oktober 2017 war ich mit meiner Schwester in Tiflis. Was mir diese Reise bedeutet und was wir dort erlebt haben, ist in den lediglich zwölf Bildern, die ich dort gemacht habe, aufgehoben, ohne auf ihnen sichtbar zu sein. Anhand der Bilder, oder einfach weil es diese Bilder gibt, kann ich mich recht genau an den Ort ihrer Entstehung und die fast märchenhafte Begegnung mit seinem Geist erinnern: Ein Freund hatte uns den Besuch des ehemaligen archäologischen Museums ans Herz gelegt. Als wir uns an der Hotelrezeption ein Taxi rufen ließen, stellte sich heraus, dass man diese vermeintliche Institution gar nicht kannte. Dank unserer Recherche konnten wir Auskunft darüber geben, wo sich das Museum ungefähr befinden müsste, und so brachte uns das Taxi auf eine Anhöhe am Rand der Stadt. Der Fahrer ließ uns aussteigen, wo die asphaltierte Straße in einen staubigen Schotterweg mündet, ein kleines Rudel Straßenhunde begrüßte uns.
Das Gebäude ist hässlich, gleichwohl aber beeindruckend wegen des massigen Frieses über dem Eingang, auf den eine ebenso monumentale Treppe zugeht. Da sofort ersichtlich war, dass das Gebäude verriegelt ist, ließen wir den Eingang links liegen und nahmen den etwas verwilderten Weg, der um das Gebäude herumführt. Ein eindrücklicher Blick auf Tiflis, das mit seiner heruntergekommenen sozialistisch-brutalistischen Architektur gut zu dem Bild passt, das das Gelände selbst abgibt: eine obsolet gewordene, aufgelassene, funktionale Einrichtung. Sie bestand ehemals aus drei riesigen Bassins, die einen Teil der Stadt mit Trinkwasser versorgten. Das vorderste war 1988 zum Museumsgebäude umgestaltet worden, das mittlere befand sich in einer Art Rohzustand, das hinterste war vollständig überwachsen und lediglich als Erhebung in der Landschaft erkennbar, aus der einige Antennen ragten.
Wir umrundeten den Bau, ich machte Fotos von den Wänden des zweiten Bassins (es bestand aus den typischen Betonplatten, die seine ehemalige Funktion noch erahnen ließen, und war durch einen Spalt sogar betretbar; im Inneren hatte man Hunderte ausgemusterte Museumsschränke entsorgt), und wir wollten uns gerade auf den Heimweg machen, als ein Auto neben uns hielt. Ein älterer Herr stieg aus, kam auf uns zu und fragte, höflich und neugierig, nach dem Grund unseres Besuchs. Er war der Direktor des Museums und hatte wohl gehofft, wir wären Gleichgesinnte, geschichtsaffine Archäologinnen, die gekommen waren, um dieses Haus zu bestaunen, das selbst wie ein Ausgrabungsstück wirkte, längst einer Funktion beraubt, die es, wie wir von ihm erfahren sollten, nie erfüllen durfte. Er muss enttäuscht gewesen sein ob unserer etwas kontingenten Gründe, lud uns aber dennoch freundlich ein, mit ihm hineinzukommen.
Ein Wachmann öffnete das riesige Gittertor, und im Inneren wurde klar, warum das Gebäude wohl nie als Museum genutzt worden war: Der wenige verfügbare Raum eignete sich schwerlich für eine größere Sammlung von Exponaten, wurde doch der größte Teil von einer Art Atrium eingenommen, dessen Boden eine Ebene tiefer lag. Neben der umlaufenden Galerie gab es lediglich einen langen Gang, dessen eine Wand vollständig von ebendiesen Schränken bedeckt war, die wir im Inneren des zweiten Bassins zuhauf entdeckt hatten. Die Schränke waren leer, dafür standen auf allen verfügbaren Bodenflächen Kartons mit archäologischen Fundstücken, scheinbar wild durcheinander. Der Direktor zeigte uns eine ältere Luftaufnahme vom Gelände – Teil der Bebauungspläne wohl – und erzählte uns, dass sein Vater das Museum auf einem der zwei Hügel gebaut habe, die die Wiege der Stadt Tiflis waren, und dass er auf dem zweiten Hügel gerade Ausgrabungen machte, die wir uns gerne ansehen dürften.
Die zwölf Bilder, die ich von der Rückseite des ehemals zukünftigen archäologischen Museums gemacht habe, sind offensichtlich nicht dokumentarisch. Sie zeigen das Gebäude nicht und auch nichts von der Stadt. Aber wie sollten sie auch etwas davon zeigen, wie sollten sie dem Betrachter ein Bild davon vermitteln, was es dort zu sehen gibt, wie sollten sie illustrieren, was Georgien ist? Das Sichtbare ist nur sichtbar vor dem Hintergrund der Bedeutung, die es durch die Gegenwart bekommt. Ein Foto ist nicht nur ein räumlicher Ausschnitt, der den Kontext im Off verschwinden lässt und damit in die Gravitation des Anspruchs gerät, mehr zu zeigen als etwas Endliches, Partikuläres, Belangloses; ein Foto ist auch ein Schnitt in der Zeit, und wie sich eben dieser Moment nicht wieder-holen lässt, lässt sich auch seine Bedeutung weder vergegenwärtigen noch vermitteln. Tiflis ist von hier aus nicht sichtbar. Diese Bilder zeigen nichts Lesbares, aber sie verlangen danach, ihre Geschichte zu erzählen.
archaeology museum, tbilisi, georgia
https://www.reinisfischer.com/former-archaeological-museum-building-tbilisi
haptic visions | 21418–19518 | hardman gallery, berlin
16 analoge Abzüge der tbilisi-Arbeiten, 30 x 40 cm | 4 Direktdrucke auf Aluminium mit eingearbeitetem analogen Abzug, 120 x 160 cm
gruppenausstellung mit ana belen cantoni, liam hardman und sollai cartwright.